KLEINE ZEITUNG vom 24.7.2022
ESSAY. Damit Alpengebiete eine Zukunft haben, braucht es vorm Hintergrund des Klimawandels einen smarten und regenerativen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft.
Von Andreas Reiter
Andreas Reiter wurde in Innsbruck geboren. Er studierte Soziologie und gründete 1996 das ZTB Zukunftsbüro in Wien. Er ist Lehrbeauftragter und Berater in strategischen Zukunftsfragen von Unternehmen, Kommunen und Destinationen. OLIVER WOLF
Der 1200 Kilometer lange Alpenbogen, mitten im Herzen Europas, ist eine der imposantesten Landmarken des Kontinents, ein ebenso wertvoller Natur- sowie Lebens- und Wirtschaftsraum für rund 14 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Ein extrem heterogener Raum - stark verdichtete Ballungsräume wie etwa das Inn- oder das Rheintal (die es von der Dichte durchaus mit dem Ruhrgebiet aufnehmen können), in den begrenzten Siedlungsräumen ballen sich Wohn-, Industrie- und Gewerbegebiete; in den Seitentälern wiederum liegen Tourismusorte und Skigebiete, daneben aber auch Naturschutzgebiete und Nationalparks.
Die Alpen sind einer der weltweiten touristischen Hotspots - mit rund 50 Millionen Übernachtungen allein in Nordtirol und 33 Millionen in Südtirol (2019). Dies war freilich nicht immer so. Die Alpen galten bis Mitte des 18. Jahrhunderts als ein Hindernis, als "hässliches Bollwerk, das die Völker trennt" (Voltaire).
Dass die Alpen heute
Süden und Norden verbinden (und nicht mehr trennen), dass sie eines der tourismusintensivsten Gebiete sind, ist dem Zeitalter der Romantik zu verdanken, in der die raue Bergwelt mit ihrer damals unzugänglichen Natur zu DEM
Sehnsuchtsraum der Städter umcodiert wurde - eine lockende, weil natürliche und gesunde Gegenwelt zu den verdreckten und lärmenden Industriestädten des 19. Jahrhunderts.
Doch dieser attraktive Lebens- und Urlaubsraum ist vor allem durch den Klimawandel massiv in Gefahr: Die Temperaturen steigen in den Bergen schneller als in vielen anderen Regionen (in den Ostalpen um fast zwei Grad in den letzten 100 Jahren). Die Auswirkungen der Erwärmung sind bekannt: auftauender Permafrost, abschmelzende Gletscher, Extremereignisse (Starkregen, Steinschlag, Muren etc.), Berghänge geraten in Bewegung, Felsstürze.
Und gerade auch die eigentliche Hauptattraktion für Touristen - der Schnee - macht sich künftig immer rarer. Die Skitage nehmen ab, die mittlere Schneehöhe schrumpfte seit 1971 von November bis Mai um jeweils 8,4 Prozent pro Jahrzehnt (Eurac Research Institute). Keine günstigen Aussichten also, schon gar nicht für den Wintertourismus, wie wir ihn bisher kannten.
Doch wohin entwickeln sich unsere Alpengebiete, welche Zukunft haben alpine Regionen und der alpine Tourismus? Wie können wir unsere alpinen Lebens- und Wirtschaftsräume krisensicher gestalten?
Die vorrangigste Aufgabe ist der smarte und regenerative Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. Aufgrund der erhöhten Gefährdung des Alpenraums infolge des Klimawandels muss dieser Umbau hier freilich schneller als anderswo erfolgen, Dekarbonisierung und Digitalisierung gehen dabei Hand in Hand.
Die
Zukunft der Alpenregionen gehört intelligenten zirkulären Lebens- und Wirtschaftsräumen: Smart City, Smart Country. Regionale Kreislaufwirtschaft, smarte, dezentrale Produktion (Internet der Dinge, Fabrik 4.0 usf.).
Ein starker Treiber in den Alpen ist der Tourismus, hier findet in den nächsten Jahren eine rasante Transformation hin zu klimagerechten Skigebieten statt, zu Plus-Energie-Hotels und zirkulären Wirtschaftsmodellen (zum Beispiel plastik- und abfallfreie Gastronomie etc.).
Der Verkehr wird intermodal (also vernetzt) werden, mit
klarer Forcierung von Bahn und nachhaltigen Zubringer-Verkehren.
Kostenloser ÖPNV (wie es ihn heute bereits in Luxemburg oder in Estland gibt) könnte auch bei uns ländliche Räume klimafreundlich an die großen Achsen anbinden. Die grüne Umgestaltung erfordert einen 360-Grad-Blick, der die Reise des Kunden von Anfang bis zum Ende klimafreundlich gestaltet. Die großen Leitplanken setzen dabei die 17 SDG-Ziele der UNO, von denen vor allem die sozialen Ziele immer wichtiger werden, zum Beispiel respektvolle und diverse Unternehmenskulturen, Fair Pay usf.
Die Alpen sind touristisch in den Wechseljahren: Wurden die Berge einst von den ersten - britischen - Touristen als
"Playground of the World" bespielt, so verstärkten die heimischen Touristiker in den 1970er- und 80er- Jahren diese Entwicklung hin zu einer
schrägen Spiel- und Partywiese à la Ischgl, Sölden u. a. Alpiner Massentourismus, starke Breite mit kleinen Spitzen. Großartiges Marketing, doch meist austauschbare Produkte und (Hotel-)Formate.
Damit ist es künftig vorbei.
Wir leben in einer Postwachstumsökonomie. Es geht künftig nicht mehr nur um die Hardware, sondern um optimalen Einsatz von Ressourcen - und es geht um Software: Menschen und deren Beziehungen. Schließlich müssen wir auch die nächsten Jahre durch Krisen und hoch komplexe Baustellen (Energiewende, gesellschaftliche Erosionen usf.).
Der
Tourismus von morgen wird zirkulärer, kleinteiliger, aber nicht minder gehaltvoller: Ob Tiny Houses oder Serviced Apartments, ob naturnahe Beherbergungen (Baumhotels etc.) - reduzierte Formate setzen sich durch, auch aufgrund des Personalmangels. Der
Sommer wird touristisch deutlich wichtiger - die Alpen ziehen auch die Klimaflüchtlinge aus dem künftig unerträglich heißen Süden Europas an, Attersee statt Adria. Der
Wintertourismus wiederum
geht zurück - Skifahren wird nur noch in einem Dutzend hoch gelegener Destinationen in Österreich möglich sein, die Schneesicherheit nimmt drastisch ab, die Preise hingegen gehen steil nach oben. Skifahren als ultimativer Luxus.
Regionen brauchen ein
starkes Zukunftsbild, das die Menschen mitnimmt auf den Weg dorthin. Wie sieht das "gute Leben" von morgen aus, wie wollen wir künftig leben und arbeiten, wie wollen wir wirtschaften? Von den Antworten hängt die Ausgestaltung unserer Zukunft ab. Es "gibt keine Fakten über die Zukunft" (Jens Beckert), sondern nur Fiktionen, Vorstellungen.
In der kollektiven Vorstellung ist ganz Österreich ein kultivierter alpiner Themenpark. Dieses Bild entspricht aber nicht ganz der Realität: Der Tourismus trägt direkt (nicht mehr als) 7,3 Prozent zum heimischen Bruttoinlandsprodukt bei.
Dabei ist die Bedeutung des Tourismus unbestritten - ohne ihn wären viele, vor allem abgelegene Talschaften verwaist. Die oft rein auf den Tourismus ausgelegten Regionen werden künftig freilich diverser, multifunktionaler. Denn monofunktionale Orte sind nicht zukunftsrobust (wir haben das in der Pandemie schmerzlich gesehen), Tourismusregionen brauchen (wie jedes Unternehmen) eine
Risiko-Diversifikation: Tourismus, Gewerbe, Dienstleistung usf.
Diese Transformation erfordert eine neue Kultur der Kollaboration und Zusammenarbeit, auch interkommunal, die Infrastrukturen werden (wie schon heute zum Beispiel in Schweden) in Zukunft noch viel stärker gebündelt.
Alpine Regionen werden zu einem hoch begehrten Zukunftsraum: Inmitten einer idyllischen Landschaft mit hohem Freizeitwert siedeln sich produzierende Unternehmen und Forschungsinstitutionen an, kreative Dienstleister und smarte Manufakturen. Freizeit und Arbeit vermischen sich - Co-Living-Häuser und -Dörfer auf Zeit ersetzen immer öfter die traditionellen Hotels. Die digitale Transformation erhöht die Attraktivität ländlicher Räume, Menschen arbeiten künftig vermehrt multilokal (drei Tage im Homeoffice, ein Tag im Büro usf.).
Die Zukunft im Alpenraum?
Packen wir's an, getreu dem Motto von Miles Davis: "Spielt nicht, was da ist, sondern was nicht da ist."
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